Ausgabe 2/2020, April

WIdO-Themen

Arbeitsunfähigkeit: Rückenschmerzen verursachen die meisten Fehltage

Der Krankenstand der knapp 14,4 Millionen AOK-versicherten Arbeitnehmer ist im Jahr 2019 im Vergleich zum Vorjahr leicht gesunken. Analysiert man die Gründe für die Fehlzeiten, so zeigt sich, dass die meisten Fehltage, nämlich 22,4 Prozent, auf Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems zurückgehen. Die Hauptursache sind dabei Rückenschmerzen.

Im vergangenen Jahr betrug der Krankenstand AOK-versicherter Arbeitnehmer 5,4 Prozent (2018: 5,5 Prozent). Damit hat jeder AOK-versicherte Beschäftigte im Durchschnitt 19,8 Tage aufgrund einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gefehlt. Die Einzeldiagnose „Rückenschmerzen“ spielte dabei eine große Rolle: Fast jedes zehnte AOK-Mitglied war deswegen mindestens einmal arbeitsunfähig. Durchschnittlich zwei Tage musste jedes AOK-Mitglied deshalb der Arbeit fernbleiben. Damit liegen Rückenschmerzen noch vor der klassischen Erkältung (1,4 Fehltage pro AOK-Mitglied). 

Vor allem Berufstätige, die körperlich stark beansprucht werden, haben Rückenschmerzen. An der Spitze stehen Berufe in der Ver- und Entsorgung (durchschnittlich 4,0 Fehltage pro AOK-Mitglied) sowie Kranführer und Kranführerinnen (3,8 Fehltage. Die niedrigsten Fehlzeiten wegen Rückenschmerzen hatten Berufe in der Hochschullehre und -forschung mit durchschnittlich 0,2 Fehltagen, gefolgt von Berufen in der Softwareentwicklung mit 0,3 Fehltagen. Die Art der Tätigkeit hängt dabei – neben& dem Alter – auch mit dem Geschlecht zusammen. Körperlich stark beanspruchende Tätigkeiten üben vor allem Männer aus. Sie lassen sich auch häufiger wegen Rückenschmerzen krankschreiben als Frauen (18,3 zu 13,4 Arbeitsunfähigkeitsfälle& ;je 100 AOK-Mitglieder). Besonders betroffen sind Männer über 60 Jahre. Ihre Fehltage liegen um 22,0 Prozent höher als die von Frauen der gleichen Altersgruppe (4,4 zu 3,6 Fehltage). 

Die Fehlzeiten durch Rückenschmerzen verteilen sich auch regional sehr unterschiedlich. So fehlen die AOK-Mitglieder in Brandenburg am& längsten (durchschnittlich 2,4 Fehltage), gefolgt von Mecklenburg-Vorpommern (2,3 Fehltage am wenigsten betroffen sind Beschäftigte in Hamburg (1,6 Fehltage)und Bayern (1,7 Fehltage. Beim Vergleich der mehr als 400 Kreise und kreisfreien Städte Deutschlands zeigt sich: Beschäftigte, die in Gelsenkirchen und Offenbach am Main wohnen, fehlen am häufigsten wegen Rückenschmerzen (3,4 und 3,3 Fehltage pro AOK-Mitglied). 

Den Rücken gesund zu erhalten ist eine wichtige Aufgabe der Betrieblichen Gesundheitsförderung. Wer im Arbeitsalltag rückenschonend vorgeht, vermeidet Beschwerden. Hier können Betriebe mit zielgenauen Präventionsmaßnahmen wie Rückenschulen oder Bewegungspausen für die Beschäftigten gegensteuern.

Markus Meyer, Projektleiter für Betriebliche Gesundheitsförderung
im Forschungsbereich BGF, Heilmittel und ambulante Bedarfsplanung im WIdO

„Die Betriebliche Gesundheitsförderung kann dabei unterstützen, möglichst rückenschonend zu arbeiten. Die Wirksamkeit von Bewegungsprogrammen wie etwa Rückenschulen lässt sich nachweisen.“

Markus Meyer, Projektleiter für Betriebliche Gesundheitsförderung im Forschungsbereich BGF, Heilmittel und ambulante Bedarfsplanung im WIdO

Chronische Schmerzen: Rückenbeschwerden sind oft ein langwieriges Leiden

Rund 4,4 Millionen AOK-Versicherte wurden im Jahr 2017 wegen chronischer, unspezifischer Rückenschmerzen ärztlich behandelt. Die Behandlung zieht sich teilweise über mehrere Jahre: Zwei Drittel der Betroffenen waren bereits im Vorjahr in Behandlung, ein Viertel sogar dauerhaft seit vier Jahren. 

Für den Heilmittelbericht 2019 hat das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) untersucht, wie viele AOK-Versicherte im Jahr 2017 in mindestens zwei Quartalen wegen Rückenschmerzen einen Arzt aufsuchten, Arzneimittel oder Physiotherapie verordnet bekamen oder arbeitsunfähig waren. Aus dieser Gruppe wurden Patienten ausgeschlossen, für die zusätzlich Diagnosen kodiert wurden, die die vorhandenen Rückenschmerzen spezifizieren, wie zum Beispiel Krebserkrankungen, Bandscheibenvorfälle oder Frakturen.

Knapp 4,4 Millionen AOK-Versicherte wurden nach dieser Definition wegen chronischer, aber unspezifischer Rückenschmerzen ärztlich behandelt. Dies betraf mehr Frauen (20,0 Prozent) als Männer (15,0 Prozent). Bis zur Altersgruppe von 60 bis 64 Jahren nahm die Zahl dieser Patienten zu. In den letzten Jahren vor Renteneintritt war die Rate bei beiden Geschlechtern am höchsten und sank danach zunächst deutlich. Während alle Patienten oft Schmerzmittel erhielten (Frauen 78,3 Prozent, Männer 76,7 Prozent), zeigten sich bei der  Physiotherapie Geschlechterunterschiede: Rund ein Drittel der Patientinnen (33,2 Prozent) nahm Physiotherapie in Anspruch, bei den Männern war es nur ein Viertel (24,6 Prozent). 

Das WIdO hat auch analysiert, wie lange die Beschwerden bereits andauerten. Zwei Drittel der Frauen (67,2 Prozent) littenschon im Vorjahr unter Rückenschmerzen,bei den Männern waren es 62,9 Prozent. Über ein Viertel (28,5 Prozent) der betroffenen Frauen wurde sogar bereits im Jahr 2013 behandelt (Männer: 24,2 Prozent). Für über eine Million AOK-Versicherte sind die Rückenbeschwerden damit ein langjähriges Leiden. 

Am 1. Oktober 2019 hat der Gemeinsame Bundesausschuss deshalb die Grundlage für ein  entsprechendes Disease-Management-Programm (DMP) verabschiedet. Die darin enthaltenen Anforderungen für die Behandlung chronischer, unspezifischer Rückenschmerzen basieren auf wissenschaftlichen Leitlinien und Studien. Empfohlen werden verschiedene Maßnahmen: Die Basis bilden körperliche Aktivierung und eine Änderung des Lebensstils. Ergänzen lassen sich diese durch Krankengymnastik, Entspannungsverfahren, psychotherapeutischeund psychosomatische Behandlungen sowie Schmerztherapie mit Arzneimitteln. Bleibt der Erfolg aus, kann eine teilstationäre oder stationäre multimodale Schmerztherapie eingeleitet werden. Die Versorgungsforschung wird die neuen Behandlungsprogramme im Rahmen der Evaluation begleiten.

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Analysen – Schwerpunkt: Herausforderung Indikationsstellung

Überversorgung – Ausmaß, Ursachen und Gegenmaßnahmen

Marion Grote Westrick und Eckhard Volbracht, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh

Überversorgung schadet Patienten und der Gesellschaft. Nationale und internationale Studien belegen, dass medizinische Leistungen an Patientengruppen erbracht werden, für die sie nicht notwendig oder sogar schädlich sind – in OECD-Staaten, inklusive Deutschland. Neben Planungs-, Vergütungs- und Steuerungsdefiziten werden gesellschaftliche Trends sowie die Erwartungen, die Einstellungen und das Verhalten von Patienten und Ärzten als Treiber für Überversorgung identifiziert. Aufgrund der Komplexität der Problematik und der Vielfalt an Ursachen und Einflussfaktoren bedarf es einer ebensolchen Vielfalt an Lösungsansätzen.

Zweitmeinung bei elektiven Eingriffen

Dawid Pieper, Universität Witten/Herdecke

Zweitmeinung bei elektiven Eingriffen ist bereits seit Anfang der 1970er-Jahre aus den USA bekannt, ehe sie 20 Jahre später aus der Versorgung de facto verschwunden ist. In Deutschland bieten derzeit viele Krankenkassen ihre eigenen Programme zu einer Vielzahl an Indikationen oder Prozeduren an. Auf dem Markt gibt es auch einige kommerzielle Dienstleister, die häufig mit Krankenkassen Verträge
schließen. Mit dem § 27b SGB V hat der Gesetzgeber das Recht auf Zweitmeinung gesetzlich verankert. Versicherte mit einer Indikation für eine Hysterektomie, Tonsillektomie oder Tonsillotomie und neuerdings auch Schulterarthroskopie ;müssen vom Arzt über ihr Recht auf Einholung einer Zweitmeinung informiert werden. Bislang mangelt es an aussagekräftigen Studiendesigns, sodass Aussagen zum Schaden und Nutzen derzeit nicht möglich sind.

Mit Leitlinien, Shared Decision Making und Choosing Wisely gegen Über-, Unter- und Fehlversorgung?

Corinna Schaefer, Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin, Berlin, und David Klemperer, Berlin

Medizinisch nicht erklärbare Versorgungsunterschiede sind seit Jahrzehnten bekannt und als ein Hinweis darauf zu verstehen, dass die Indikationsstellung für medizinische Interventionen nicht immer den Interessen der Patienten entspricht. Damit einher gehen Über-, Unter- und Fehlversorgung. Im Beitrag wird das Potenzial zur Verbesserung der Indikationsstellung folgender drei Instrumente erörtert:

• Bereitstellung vertrauenswürdiger Evidenz in Leitlinien
• Shared Decision Making von Patient und Arzt mit Vereinbarung einer Zielsetzung, die den objektiven und subjektiven Bedarf des Patienten berücksichtigt
• Choosing-Wisely-Empfehlungen zur Vermeidung von unnützen Interventionen und zur Minderung von Überversorgung